Autoimmune Enzephalitis: „Ich bin nicht verrückt!“

Pressemitteilung /

Enzephalitis-Tag: Expertengespräch mit PD Dr. Andreas Binder (Saarland) und PD Dr. Frank Leypoldt (Schleswig-Holstein).

Was Menschen im Umfeld als „Phase der Verrücktheit“ wahrnehmen können, kann auf eine Autoimmunerkrankung hinweisen. Zum „Welt-Enzephalitis-Tag“ heute und mit Blick auf den „Tag der seltenen Krankheiten“ am 28. Februar veröffentlichen wir ein Experten-Gespräch zwischen Klinikum Saarbrücken als Fragesteller, Privatdozent Dr. Frank Leypoldt, Institut für Klinische Chemie im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, und Privatdozent Dr. Andreas Binder, Chefarzt der Klinik für Neurologie des Klinikums Saarbrücken.

Der 44-jährige Neurologe Dr. Frank Leypoldt berichtete im Rahmen einer Weiterbildungsreihe über den Stand der Forschung zu einem bislang noch wenig bekannten Krankheitsbild: Die Autoimmune Enzephalitis (AE). Das Klinikum Saarbrücken möchte über die seltene Erkrankung aufklären und ist auch als Mitglied im deutschen Netzwerk zur Erforschung der autoimmunen Enzephalitis (Generate) aktiv.
 

Klinikum Saarbrücken (KS):  Dr. Leypoldt, was kann sich der Laie unter Autoimmuner Enzephalitis vorstellen?

PD Dr. Frank Leypoldt (FL): Als Enzephalitis bezeichnet man grundsätzlich eine Entzündung des Gehirns. Meist sind Viren oder Bakterien die Auslöser. Bei der Autoimmunen Enzephalitis ist aber für die Entzündung kein Virus oder Bakterium verantwortlich, sondern das eigene Immunsystem, das gestört ist und somit das eigene Gehirn attackiert.
 

KS:  Wie äußert sich diese Erkrankung?

FL: Die Patienten sind oft psychiatrisch auffällig. Voraus gehen stets seltsame Veränderungen, dann kann das komplette Spektrum der neurologischen Erkrankungen von Bewusstseinsminderung bis hin zu Psychosen, epileptischen Anfällen, Bewegungsstörungen auftreten. Jede Altersgruppe kann betroffen sein und bei jedem kann es sich anders äußern. 70 Prozent der Patienten werden meist psychiatrisch interpretiert, eben weil die Erstsymptomatik oft Verhaltens- oder Aufmerksamkeitsstörungen oder demenzartige Anfälle mit sich bringt.
 

KS:  Und wie stellt man fest, dass die Menschen nicht plötzlich den Verstand verloren haben, sondern es eine medizinische Erklärung dafür gibt?

FL: Das geht nur über Speziallaboruntersuchungen, über den Nachweis bestimmter Antikörper im Blut. Ein Neurologe aus Barcelona, Dr. Josep Dalmau, hat durch seine Forschung extrem dazu beigetragen, diese Art der Erkrankung näher beleuchten zu können: Er hatte sechs Patientinnen, die vermeintlich psychiatrische Erkrankungen hatten. Sie waren in der Tat „plötzlich verrückt geworden“, dieser Zustand dauerte wenige Tage an und ging über in epileptische Anfälle. Die meisten davon mussten danach auf eine Intensivstation behandelt werden. Es war total unklar, was diese Frauen eigentlich hatten. Der einzige gemeinsame Nenner war ein gutartiger Eierstocktumor. Und sie sprachen zudem alle auf eine Immuntherapie an und wiesen Antikörper gegen einen bestimmten Rezeptor auf.
 

KS:  Das war dann der „Wendepunkt“?

FL: Ja. Damit hatte Dalmau sozusagen die „Modellerkrankung“ für eine völlig neue und bis dato nicht wahrgenommene Gruppe von Erkrankungen, die wir nun als AE übergreifend zusammenfassen, identifiziert. Gemeinsamer Nenner: Die Patienten haben meistens Antikörper, die sich gegen die Oberfläche von Nervenzellen richten – und damit wie ein Narkotikum wirken.
 

KS:  Also als hätten sie Drogen konsumiert oder seien plötzlich psychotisch?

FL: Ja, ähnlich. Jeder im näheren Umfeld wird sich fragen: Was ist los mit ihm, was ist los mit ihr? Das Interessante ist, dass die Patienten, wenn die AE erkannt wird, relativ gut behandelbar sind. Dann gibt es oft, auch nach monatelangen Aufenthalten auf einer Intensivstation, einen guten Verlauf.
 

KS: Das entscheidende Kriterium ist also die Diagnostik – aber auch ein Hausarzt, der ganz genau hinschaut und die Patienten in die richtigen Bahnen lenkt.

FL: Richtig. Es gibt leider keine spezifischen Symptome, deshalb ist die Forschung hier auch so wichtig, die auch noch lange nicht abgeschlossen ist. Fakt ist: Die Krankheit ist nur mit Antikörper-Diagnostik nachzuweisen.
 

KS: Können Sie uns einen Fall beschreiben, den Sie diagnostiziert haben?

FL: Ja, sogar einen recht außergewöhnlichen. Ein junger Mann Mitte 20 wurde plötzlich auffällig. Er hatte gerade mit seiner Freundin eine Wohnung bezogen und sie strichen gemeinsam eine Wand. Er ging kurz raus und als er zurückkam, fragte er, wer die Wand gestrichen habe. Solche Momente gab es einige Wochen lang gehäuft, Freunde und Bekannte bemerkten, dass er sich merkwürdig verhält. Er ließ sich untersuchen, das EEG zeigte keine Auffälligkeiten. Man sprach von funktionellen Erkrankungen und behandelte ihn psychiatrisch.

Der junge Mann führte eine Existenz ohne jegliche Gedächtnisneubildung: Sobald jemand den Raum verließ, wusste er nicht mehr, wer das war – also ein völliger Verlust jeglicher Art von Neueinspeicherung im Gedächtnis. Als er zu uns kam, testeten wir auf Antikörper – et voilà. Unter Immuntherapie verschwanden innerhalb von zwei Monaten alle Symptome – und der Mann hatte sein altes Leben zurück. Das ist sicher ein besonderer Fall, aber er zeigt: Es kann jeden in jedem Alter treffen und durch die richtige Diagnose und dann die richtige Therapie kann man den Menschen helfen.
 

KS:  Wie oft kommt diese Diagnose denn vor?

FL: Sie ist selten, kommt aber häufiger vor als gedacht. Unter Medizinern spricht man von einer Inzidenz von 1 auf 100.000 Patientenjahre. In einer Stadt wie Saarbrücken würde man wohl zwei bis drei Patienten pro Jahr erwarten.

PD Dr. Andreas Binder (AB): Wir in der Neurologie des Klinikums Saarbrücken sehen diese Fälle dann auch. Es gibt immer wieder Fälle mit schwierigen Diagnosen. Aktuell haben wir beispielsweise einen Patienten, der mit unspezifischen Symptomen zu uns kam: Leistungsschwäche, er konnte plötzlich von einem Tag auf den anderen kein geordnetes Leben mehr führen. Die Angehörigen vermuten da oft zuerst mal eine akute Demenz. Wenn dann noch eine Wesensveränderung, aggressives Verhalten und eine allgemeine Verhaltensstörung dazu kommen, muss man als Arzt aber sofort hellhörig werden.

FL: Durch die Forschung und die entstandene und entstehende Sensibilität lernen wir alle zunehmend besser, diese Erkrankung zu verstehen und schlussendlich auch zu entdecken. Man muss ja annehmen, dass sie in der Vergangenheit bei vielen Menschen unerkannt und unbehandelt blieb. Viele wurden vermutlich in Psychiatrien auf eine besondere Art der Psychose behandelt. Ihnen hätte man gegebenenfalls durch eine Immuntherapie helfen können, die Erkrankung zu lindern.
 

KS:  Es klingt, als sei der Leidensdruck bei dieser Erkrankung enorm hoch, sowohl bei den Patienten selbst als auch beim Umfeld.

FL: Das ist in der Tat so. Das Umfeld ist oft argwöhnisch, weil die Erkrankten so plötzlich und so extrem wesensverändert sind. Aber, das stellen wir auch immer wieder fest: Die Diagnose ist oft schon der erste Schritt zur Besserung.
 

KS: Wie sieht es mit den Heilungschancen aus?

FL: Unter der richtigen Therapie erholen sich 70 bis 80 Prozent der Erkrankten fast vollständig. Es klingt fast unglaublich: Die Menschen verbringen oft mehrere Monate auf Intensivstationen, können dann aber wieder in den Beruf zurückkehren und weitgehend normal leben. Zum Vergleich: Bei Schädelhirntrauma-Patienten mit einem ähnlich langen Intensivaufenthalt ist die Rückkehrerrate ins normale Leben deutlich geringer.

AB: Deshalb ist uns so wichtig, über diese Erkrankung aufzuklären und ein Forum für interdisziplinären Wissensaustausch zu bieten. Das Erkennen ist der Knackpunkt. Einfach formuliert: Wenn ein Gehirn akut entzündet ist, leuchtet es im MRT, das ist ganz gut zu erkennen. Aber: Wenn es längere Zeit entzündet ist und nicht entsprechend behandelt wird, schrumpft es und dann leuchtet nichts mehr – und das ist nicht mehr rückgängig zu machen, dann ist es zu spät.
 

KS:  Ist ein Laie, ein Nicht-Mediziner, überhaupt in der Lage, die Anzeichen dieser Krankheit zu erkennen?

AB: Die Eigendiagnose dürfte schwierig sein. Unser Rat ist: Bei akuten Einschränkungen sofort neurologisch untersuchen lassen. Man braucht die Wachheit des behandelnden Arztes, der die Krankheit zumindest in Erwägung ziehen muss. Das betrifft mehrere Fachbereiche, nicht nur die Neurologen. Auch die Kollegen aus der Psychiatrie oder der Pädiatrie brauchen diese Achtsamkeit. Viele bilden sich aktuell dementsprechend weiter, unter anderem bei unserem 1. Neurologischen Diskurs auf dem Winterberg, bei dem Dr. Leypoldt dazu unterrichtet hat. In der Praxis stellt sich oft die Frage: Mit was habe ich es zu tun? Verwirrtheitszustand, akute Psychose, eine organische Hirnerkrankung oder ist es eine Form der AE? Wichtig ist, dass der Patient auch das richtige Maß an Diagnostik und Therapie erhält.

FL: Natürlich gibt es dazwischen viele andere Diagnosen, die viel häufiger vorkommen. Sie ist viel seltener als Parkinson und Demenz beispielsweise. Aber es ist unter den seltenen Erkrankungen eine sehr gut behandelbare. Deshalb: Wenn der Fall eintritt, dass alle anderen Diagnosen nicht passen, muss der behandelnde Arzt daran denken. Er muss aktiv veranlassen, dass eine Antikörperbestimmung – was keine Standard-Untersuchung ist – erfolgt.
 

KS: Kann man präventiv etwas tun?

FL: Leider nein. In der akuten Phase muss gehandelt werden. Was man tun kann und was wir auch tun, ist die Vernetzung und die Aufklärung. Ich bin zum Beispiel Sprecher des Netzwerks GENERATE – GErman NEtwork for REsearch on AuToimmune Encephalitis. Ziel ist, Wissen zu bündeln. Ein Schwerpunkt ist, sich Rat zu holen bei anderen Medizinern und die gebündelte Expertise zusammenzutragen: Wenn jedes Zentrum zwei bis drei Patienten pro Jahr hat, macht das einzeln nicht viel aus, aber in der Summe schon. Wir gehen von vielen tausend Betroffenen in Deutschland aus, die behandelbar sind. Es geht darum, die Versorgung zu verbessern. Deshalb lohnt es sich, bei solchen seltenen Erkrankungen Aufklärung und Forschung zu betreiben.
 

Zur Person:

Privatdozent Dr. Frank Leypoldt vom Institut für Klinische Chemie im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Dort ist er als Oberarzt, Facharzt für Neurologie, Bereich allgemeine und neurologische Autoimmundiagnostik, Facharzt für Laboratoriumsmedizin und Leiter der Neuroimmunologischen Ambulanz tätig.

GENERATE:

Das ist ein deutsches Netzwerk zur Erforschung der autoimmunen Enzephalitis, die Homepage (www.generate-net.de) richtet sich an das interessierte Fachpublikum sowie an Patientinnen und Patienten und deren Angehörige. Sie bündelt Informationen zur verschiedenen Formen der Autoimmunenzephalitis.

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PD Dr. Andreas Binder, Chefarzt im Klinikum Saarbrücken, mit Logo "Generate"
Die Klinik für Neurologie auf dem Winterberg unter Chefarzt PD Dr. Andreas Binder engagiert sich im GENERATE-Netzwerk.